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Ulrich Achenbach zum wichtigen Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Unantastbarkeit des Existenzminimum

Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebensstandards sind unantastbar. Das hat die große Kammer des EuGH in der Rs Haqbin (C-233/18) am 12. November 2019 für das Flüchtlingssozialrecht entschieden. Kurzfassung des Urteils (wörtlicher Text).

Art.20 Abs.4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist im Licht von Art.1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art.2 Buchst.f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art.20 Abs.4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs.5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art.24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen. 

Zwar bezieht sich dieses Urteil des EuGH auf die Sozialleistungen für Flüchtlinge, nach nationalem Recht in Deutschland auf das Asylbewerber-Leistungsgesetz (AsylbLG). Selbst in diesem Gesetz stehen mehrere Vorschriften nicht im Einklang mit der jüngsten Entscheidung des EuGH, z.B. § 1 AsylbLG. Das Urteil des EuGH kann sich jedoch Einfluss auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Thema Sanktionen nach dem SGB II (Hartz IV) haben, wenn Sozialgerichte erkennen, dass auch die Begrenzung der Sanktionen auf 30% des ALG II zu außergewöhnlichen Härten beim Leistungsempfänger führen können. In solchen Fällen könnten die Sozialgerichte die entsprechende Streitsache mit Hinweis auf das Urteil zu EuGH zum Existenzminimum zur Entscheidung vorlegen. Die Unantastbarkeit des Existenzminimum für Flüchtlinge muss sinngemäß auch für alle Staatsangehörigen der EU gelten, die staatliche Leistungen beziehen.

Eine Gefährdung des Existenzminimum ist immer gegeben, sobald die Kostenübernahme für die Unterkunft einschl. der Heizkosten gefährdet ist oder Zuschläge für kostenaufwändige Ernährung usw. durch die Sanktion entfallen. Schnell kann das Existenzminimum z.B. bei vorherigen Darlehen der Jobcenter (für notwendige Anschaffungen von Hausrat wie Waschmaschine usw.) unterschritten werden, wenn durch die Sanktionen – auch „nur“ bis zu 30% die Ratenzahlung für das Darlehen vom Hartz IV-Bezieher nicht mehr geleitstet werden kann und das Darlehen dann in einer Summe fällig wird.

Ein spannender Beschluss des 29. Senat LSG Berlin-Brandenburg vom 26.11.2019 – Az.: L 29 AS 2004/19 B ER

Das Verfahren betraf einen unter 25-Jährigen (mit Kindern) und eine Totalsanktion. Das Jobcenter hatte im Verfahren ein Teilanerkenntnis abgegeben und die Sanktion auf 30% reduziert. Die Teilanerkenntnis wurde zwar angenommen, die Beschwerde jedoch voll umfänglich aufrechterhalten. Das LSG hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet, da es auch eine auf 30% reduzierte Sanktion als rechtswidrig erachtete, wenn diese unabhängig von der Bereitschaft zur nachträglichen Mitwirkung starr für 3 Monate verfügt wird.

Der Beschluss des BVerfG zur Minderung der Sanktionen auf höchstens 30% des ALG II geht an der Realität des Existenzminimum vorbei, da die jetzigen ungekürzten Regelbedarfe bereits unter dem Existenzminimum liegen und eine Sanktion – auch wenn sie berechtigt wäre – nicht verhängt werden darf. Außerdem ist es ein Skandal, dass alle bis zur Urteilsverkündung des BVerfG verhängten Sanktionen gegen die Leistungsempfänger bestehen bleiben. Eine rückwirkende Überprüfung der rechtskräftigen Leistungsbescheide gem. § 44 SGB X hat das BVerfG nicht vorgesehen.

Trotz des „Linksrucks“ der SPD nach dem Bundesparteitag ist von dieser bürgerlichen Partei nicht zu erwarten, dass sie sich für die Abschaffung aller Sanktionen einsetzen wird.

Der Kampf der Montagsdemos und aller Initiativen gegen die Entrechtung durch Hartz IV muss daher unvermindert weitergehen.

Jeder Hartz IV – Empfänger, der einen Sanktionsbescheid vom Jobcenter bekommen hat, sollte daher sofort Widerspruch dagegen erheben. Die Frist von 30 Tagen nach Zustellung des Bescheides ist unbedingt einzuhalten, da er sonst bestandskräftig wird!

Weg mit Hartz IV und Fortzahlung des ALG I (bei entsprechender Erhöhung) für die Dauer der Erwerbslosigkeit ohne Sanktionen!!!

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